Als er unten ankommt, ist die
Halle fast leer. Der morgendliche Andrang zu den Zubringerzügen in die
umliegenden Großbetriebe ist vorbei. Ein paar Reisende stehen vor der großen
doppelflügeligen Alutür der MITROPA-Gaststätte und bewundern das Schild „Heute
geschlossen“ – natürlich ohne Angabe von Gründen. Dabei hatte man sich so sehr
auf das lauwarme, aber frisch gezapfte, Wichtelbräu und die Bowo vom VEB Fleischkombinat
Riesa gefreut. Nun heißt es die Zeit in der zügigen Halle auf die eine oder
andere Weise zu überbrücken. Einige knobeln in ihrem Troll, den sie vom Kiosk
des Postzeitungsvertriebs erwerben konnten. Andere lesen in der NBI oder blättern
gelangweilt die Pflichtlektüre jedes treuen Parteigängers durch. Man munkelt, eine
neue Möglichkeit auszuloten, die Druckerschwärze dieses Printexemplares extra
fest auf das Papier zu bekommen, damit beim Hinternabwischen nicht immer so viele
Buchstaben kleben bleiben. Außerdem ist es nicht zuträglich, wenn das
Zentralorgan der SED, zu vielen am Allerwertesten vorbeigeht.
Arne lugt durch die Scheibe von Schalter eins der Fahrkartenausgabe. Niemand zu sehen, also klopft er gegen die Scheibe. Aus dem hinteren Teil des Dienstraumes röhrt es: „Moment! Alle kommen dran und der nächste Zuch fährt erst in ne halben Stunde. Also ma langsam mit de Pferde.“ Hinter dem Vorhang, der den Pausenbereich vom Fahrkartenverkauf abtrennt, kommt Rita Hüftheber hervor und winkt ab. „Ach, Kathrin, iss für dich, aber mach nich so lange.“ Sie deutet zur Tür der Fahrkartenausgabe und Arne geht um die Ecke und wartet dort. Von gegenüber stiert Müffelmann durch die große Scheibe der Gepäckannahme. „Hast nüscht zu tun?“, zischt er durch die Scheibe und wackelt mit einer qualmenden Karo davon.
Die Tür öffnet sich und Kathrin steht vor ihm. Nach einer tiefen Umarmung und einem langen Kuss, kichert sie ihn an. „Warst du das vorhin mit der Ansage?“ Arne wird rot und schaut verlegen zur Seite. „Ja, muss ich ja. Haste das verstehen können?“ Kathrin stubst ihn wieder in die Seite. „Ja klar, hast gut gemacht. Wolln wir eine rauchen gehen?“ „Ja logo, hab was ganz Feines dabei.“ Arne zieht die Schachtel WEST aus der Jackentasche und hält sie Kathrin hin. „Hier, probier mal.“ Die lässt sich zu sowas nicht lange bitten und beide gehen nach draußen auf den Vorplatz und lassen sich die West-Stängel schmecken.
Zur gleichen Zeit klingelt das schwarze RFT-Wählscheibentelefon in der Aufsicht. Strangowitz geht ran und schon nach kurzer Zeit verzieht sich sein Gesicht. „Na toll!“, brummelt er und schmeißt den Hörer nach einem kurzen Gespräch wieder auf die Gabel. Die Elektrifizierungsarbeiten auf der Stammstrecke nach Berlin verursachen mal wieder Umleiterverkehr. Einige D-Züge fahren auf der Nebenbahn über Falkenberg-Jüterbog von und nach Berlin. Schon so einige pfiffige Reisende haben dabei ihre Chance auf eine schnelle Verbindung in die Hauptstadt gewittert und sind einfach in die haltenden Züge eingestiegen. Wo aber kein Verkehrshalt ist, ist auch kein Zustieg. Und darauf hat nun die Aufsicht zu achten. Na, darum kann sich der Stift kümmern. Das ist Erfahrungszuwachs und Stärkung des Selbstvertrauens. Außerdem hat dann Strangowitz Zeit für seine FuWo, die er heute früh für 50 Pfennig noch schnell unten am Kiosk geholt hatte. Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre.
Blöd nur, dass der erste Umleiter jetzt gleich da ist und der Stift unten in der Halle bei seiner Ische rumlungert. Also muss Strangowitzt selbst rüber und das Kindermädchen spielen. Also: Auf geht’s. Fahr lieber mit der Reichsbahn, geht ihm der Gedanke durch den Kopf. Obwohl, das hört sich komisch an und er schüttelt den Kopf, so als ob er einen lästigen Gedanken loswerden wolle. Vielleicht liegt es auch daran, dass das eher der Slogan für die andere Deutsche Bahngesellschaft jenseits des antifaschistischen Schutzwalles war. Wer weiß es...Dann eben doch: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Mit diesen oder ähnlichen Gedanken verlässt das Rotkäppchen den Bau und begibt sich zu den Wölfen auf den Bahnsteig.